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Gründungsgeschichte des Archiv 1992 e.V.

Das in der Hansestadt Bremen ansässige »Archiv 1992 – Archiv für transatlantische Sozial- und Kulturgeschichte e.V.« hatte seinen Ursprung in Reisen einiger seiner Gründerinnen und Gründer, die sie seit Ende der 1970er Jahre durch Länder Süd- und Nordamerikas gemacht hatten. Neben den Erfahrungen und Kontakten brachten diese Mitglieder aus Übersee schwere Rucksäcke mit, die vollgestopft waren mit Büchern, Broschüren und Drucksachen aller Art, Schallplatten (später auch CDs), Audiokassetten, Fotos und Videofilmen. Im Laufe der Zeit kamen sehr viele Materialien zusammen, und unter diesen waren nicht wenige Printmedien, die sich nach und nach als Schätze der »grauen Literatur« erwiesen. Unter »graue Literatur« fasst man Bücher, Broschüren oder Flugschriften, die in ihren Herkunftsländern oftmals nur in kleinen Auflagen erschienen sind, nirgendwo in Verzeichnissen auftauchen, über keine Internationale-Standard-Buch-Nummer (ISBN) verfügen und so schon kurz nach ihrem Erscheinen öffentlich nicht mehr auffindbar sind. Irgendwann tauchte deshalb unweigerlich die Frage auf: Warum sollen sich all diese nützlichen und für viele interessanten Dinge in Privatwohnungen stapeln? Warum also sollten wir nicht dafür sorgen, dass sie für andere zugänglich werden?
So war die Idee der Einrichtung eines Archivs geboren. Und weil sich die Initiatoren schon lange schwerpunktmäßig mit den Verbindungen zwischen Europa, Afrika und den Ländern der amerikanischen Hemisphäre befassten, folglich auch die Materialien alle irgendetwas mit diesem Schwerpunkt zu tun hatten, war klar, dass es ein Archiv zum Thema »transatlantische Beziehungen und Geschichte« sein sollte.

Broschüre Archiv 1992Ab etwa 1989 wurden die späteren Vereinsgründer noch von einer Entwicklung beeinflusst, die auch etwas mit der transatlantischen Geschichte zu tun hatte: Insbesondere aus Lateinamerika und aus den organisierten Strukturen nordamerikanischer Ureinwohner – von dem aus Genua stammenden Seefahrer Christoph Kolumbus »Indianer« genannt, weil er glaubte, Indien entdeckt zu haben, tatsächlich aber die Küsten dessen erreicht hatte, was später »Neue Welt« genannt wurde – kamen in Bremen Aufrufe und Zeitungsartikel an, die kritisierten, dass Spanien und weitere Länder Europas gemeinsam mit den USA und ihren Verbündeten in Lateinamerika für das Jahr 1992 planten, das 500-jährige Jubiläum der sogenannten Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 durch den für die spanische Krone reisenden Christoph Kolumbus gehörig zu feiern. In Europa bildete sich durch die Anregung der von den Eroberungen der europäischen »Entdecker« Betroffenen daraufhin eine Gegenbewegung, deren Hauptmotto hieß »1492/1992: 500 Jahre Kolonialismus – 500 Jahre Widerstand«.

Als in der erste Jahreshälfte 1990 der Bremer Verein gegründet wurde, sollte schon sein Name Programm sein, indem er sich genau auf diesen historischen Zusammenhang bezieht. So kam es zum Namen »Archiv 1992 – Archiv für transatlantische Sozial- und Kulturgeschichte e.V.«, was sich für die internationalen Kontakte mit »Archivo de la Historia Social y Cultural Transátlantico auch gut ins Spanische übersetzen ließ und mit »Archives for Transatlantic Social and Cultural History« ins Englische. Am 14. Mai 1990 wurde der Verein schließlich gegründet und bereits am 21. Juni 1990 in das Bremer Vereinsregister eingetragen.

Der von sieben Mitgliedern gegründete Verein wuchs rasch auf eine größere Gruppe heran, die sich regelmäßig traf und ein Aktions- und Arbeitsprogramm entwickelte. Schon bald beteiligte sich der Verein am großen Bremer Plenum der Kampagne »500 Jahre Kolonialismus – 500 Jahre Widerstand«, das sich aus zahlreichen Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen der Stadt zusammensetzte und sich bundes- und europaweit vernetzte und seine Kontakte nach Übersee ausbaute. Dem Archiv 1992 kam dabei die Funktion zu, innerhalb der Kampagne das Bewusstsein zu schärfen, dass nicht nur Lateinamerika und die Karibik von der Eroberung durch die europäischen Kolonialmächte betroffen waren, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Boden der Ureinwohner als euro-amerikanischer Siedlerstaat gegründet worden waren. Und dass auch heute dort innerhalb der US-Grenzen Bevölkerungsgruppen existieren, die wie Ausländer behandelt werden und deshalb ihre Situation als »innere Kolonien der USA« begreifen: die in Reservationen abgedrängten Nachfahren der Ureinwohner (»Indianer«), die aus den annektierten mexikanischen Gebieten stammenden Chicanos, die Einwohner der US-Kolonie Puerto Rico und ihre in die US-Ghettos migrierten Landsleute sowie die größte dieser Bevölkerungsgruppen, die als Schwarze oder Afroamerikaner zusammengefassten Nachfahren der Sklaven, die während des jahrhundertelangen Sklavenhandels aus verschiedenen afrikanischen Regionen verschleppt worden waren.

Aufgrund seiner Kontakte zu den politischen Organisationen dieser inneren US-Kolonien befasste sich das Archiv 1992 vor allem mit der von Rassismus geprägten Situation der Afroamerikaner – und darin stark mit der Situation politischer Gefangener wie dem im Todestrakt sitzenden Mumia Abu-Jamal und weiterer Ex-Mitglieder der Black Panther Party – und vor allem auch mit der Situation der 1898 von den USA annektierten Kolonie Puerto Rico und ihrer sehr aktiven Unabhängigkeitsbewegung.

Wie die Materialien auf der Unterseite »Archivalien allgemein« zeigen, organisierte das Archiv 1992 Rundreisen von Delegierten dieser Befreiungsorganisationen im deutschsprachigen Raum und vertiefte selbst die Beziehungen zu diesen Organisationen durch Gegenbesuche in Nordamerika und Puerto Rico.

Pathfinder Building New YorkDie erste Veröffentlichung des Archiv 1992 in diesem Zusammenhang war die 116 Seitem umfassende Dokumentation »Kolonie der USA? – Puerto Rico libre!«, Transatlantische Schriften des Archiv 1992 aus der Reihe »500 Jahre Kolonialismus – 500 Jahre Widerstand«, Bremen Mai 1991. Das Editorial der Dokumentation war 1991 die erste inhaltliche Positionierung des Archiv 1992, die zukunftsweisend sein sollte. Der Text beginnt mit einer Beschreibung des von Mike Alewitz entworfenen Wandgemäldes am Pathfinder Building, dem Haus des Pathfinder-Verlages der Socialist Workers Party in New York City.

Die Druckerpresse trägt als Inschrift ein Zitat von Fidel Castro: »Die Wahrheit muß nicht nur wahr sein, sie muß auch ausgesprochen werden.« (»The truth must not only be the truth, it must be told.«)

  • Link zum Editorial (PDF)

  • Die komplette Dokumentation »Kolonie der USA? – Puerto Rico libre!« kann demnächst gegen eine Schutzgebühr als PDF über unseren Arsenal-Shop bezogen werden, sobald er aktiviert wird

Die Aufnahme des Wandbildes stammt aus dem Entstehungsjahr 1989. Der Künstler Mike Alewitz hatte das Gemälde mit 80 Unterstützern aus zwanzig Ländern im Lauf von zwei Jahren über die fünf Stockwerk hohe Außenwand erstellt. Aufgrund des maroden Wandputzes ließ der Pathfinder-Verlag das Bild 1996 anlässlich der Sanierung des Mauerwerks übermalen. Später wurde das Pathfinder-Gebäude verkauft und abgerissen, um Platz zu schaffen für den Bau von mehreren Bürotürmen eines Großinvestors.